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ABRECHNUNG 2

Die Wochen wurden immer mehr ausgefllt, als - natrlich auch, ohne den Kindergarten besucht zu haben - Maude in die Schule kam. Kim wechselte im selben Moment auf eine andere Schule, so da die Mutter nun ihre Tchter stndig holte und brachte. Zwar beklagte sie sich fast tglich, da sie sich das nicht leisten knne, schon der Benzinkosten wegen, doch stellte sie gleich darauf seufzend fest, da sie aber auch alles tun werde, damit die lieben Kinder es gut htten. Maude, der zwar ruhigeren, aber auch ngstlicheren, gefiel es gar nicht, da ihre Schwester nicht mit ihr auf eine Schule ging, doch war daran nichts zu ndern. Beide Mdchen muten eifrig weiter lernen und ihren "Hobbys" nachgehen, sie lernten schnell und brachten gute Zeugnisse nach Hause, dafr sorgte schon die Aufsicht der Mutter. Kim zog sich nach dem Schulwechsel immer mehr in sich zurck, Wrme und Verstndnis fand sie nur noch bei der Gromutter, der sie fters ihr Herz ausschttete. Die Gromutter drckte sie dann fest an sich und lie ihre Enkelin heie Trnen auf ihrer Schulter vergieen. Kims Mutter beschrnkte sich auf einen Gutenacht-Ku fr ihre jngere Tochter, Kim war ihrer Meinung nach schon zu alt dafr, doch in die Arme nehmen oder an sich drcken - von ihr "kindisches und dummes Schmusen" genannt, gab es nicht. Oft weinte sich Kim in den Schlaf, zumal sie zunehmend an Alptrumen litt und auch gesundheitlich einige Probleme hatte. Oft, wenn sie morgens zu schnell aufstand, hatte sie Schwindelgefhle oder ihr wurde schwarz vor Augen. Da ihre Eltern und auch die Gromutter, von einige geringfgigen Altersbeschwerden abgesehen, keine Krankheiten oder Wehwehchen hatten, meinte sie, ihre Symptome verbergen zu mssen. Erst als sie eines morgens im Bad ohnmchtig wurde, erkannte die Mutter, da mit Kim etwas nicht stimmen konnte. Der schnell herbeigerufene Notarzt riet zu einer Generaluntersuchung, deren Befund zeigte ein zu schnelles Wachstum mit Kreislaufstrungen, zu beheben mit ein paar Medikamenten. Doch Kims Mutter bestand darauf, ihre Tochter nur mit Pflanzenextrakten zu behandeln, deren Wirkung weitaus schwcher war, so da Kim noch einige Male, wenn auch nicht so oft, Beschwerden hatte. Doch die Reaktion ihrer Mutter hatte ihr klargemacht, da sie von dieser Seite wenig Untersttzung und gar kein Verstndnis im Falle eines Falles zu erwarten brauchte. So verschwieg sie auch die ersten rosa Tupfen im Schlpfer, lebte aber mit der berzeugung, Krebs zu haben, wie sie meinte aus einigen hier und da aufgeschnappten Wortfetzen im Fernsehen oder bei Gesprchen erlauscht zu haben. Am Tage der ersten starken Regel verlor sie sehr viel Blut und glaubte, da sie am Sterben sei. Verzweifelt rief sie nach ihrer Mutter, diese erschien, sah das viele Blut und rief verzweifelt:

"Gott o Gott, was ist denn das? Hast du innere Blutungen? Ich mu sofort den Notarzt rufen!" und weg war sie. Kim dachte ernstlich, ihre letzte Stunde habe geschlagen, zumal sich zu den Blutungen auch heftige Krmpfe gesellten. Als der Arzt kam, mute er lachen:

"Aber gute Frau! Ihre Tochter hat ihre erste Monatsblutung. Sie ist zwar ein bichen stark, aber kein Grund zur Aufregung! Ist sie denn noch nicht aufgeklrt?"

"In ihrem Alter? Sie ist doch erst zehn!" Kopfschttelnd sah der Arzt sie an.

"Aber Madam, ihre Tochter ist eben etwas frher als die anderen reif! Das ist doch heute kein Problem mehr!"

Kim verstand aus diesem ganzen Dialog nur so viel, da sie nicht sterbenskrank war, sondern etwas hatte, was vielen anderen auch geschah. Als der Arzt gegangen war, fragte sie zgernd ihre Mutter:

"Mum, was ist das also, was ich habe?" Die Mutter mute all ihre Kraft zusammennehmen, um, wenn auch stockend und mit falschem Scham, ihre Tochter ber die natrlichen Vorgnge in ihrem Krper aufzuklren. Kim aber merkte, da die Mutter sich schwertat mit der Aufklrung und da es ihren Worten zufolge etwas sei, ber das man nicht redete und fr das man sich schmen mute. ber Sex wurde erst gar nicht gesprochen, solche Themen waren tabu im Hause O'Keary. Und da weder Bcher noch Fernsehen dieses Thema anschnitten, blieb Kim in Unwissenheit und Unverstndnis dieser Dinge, hchstens, da sie ihr als etwas sehr Schlechtes erschienen, wenn ihre Klassenkameradinnen darber sich flsternd und leise kichernd unterhielten. Kim stand immer abseits und hatte deshalb gezwungenermaen nichts anderes im Kopf, als die Schule und ihre Kurse. Um ihr das >Leiden< noch mehr zu erschweren, verlangte die Mutter von ihr, da sie dicke Binden benutzen sollte, da die Mutter fest der berzeugung war, da Tampons ihrer Tochter die Jungfrulichkeit rauben wrden. Kim wagte kaum mehr, in Hosen in die Schule zu gehen, da die Binden sich zu sehr abzeichneten. Auerdem war sie mit einem rztlichen Attest versehen, welches ihr erlaubte, am Sport nicht teilnehmen zu mssen, wenn sie ihre Tage hatte. Natrlich war sie nun noch mehr Zielscheibe des Spottes ihrer Klassenkameradinnen, die sich auch whrend ihrer Monatsblutungen frei bewegten und Kim bei jeder Gelegenheit hnselten. Je mehr sie dies frustrierte, desto mehr begann sie zu essen, bis sie schlielich erhebliches bergewicht hatte. Die Mutter gab ihr zwar bereitwillig immer mehr zu essen, leistete sich aber dabei den Luxus, ihre Tochter darauf hinzuweisen, da sie zu fett sei. Doch Kim interessierte dies wenig, war sie ja sowieso schon als Auenseiter bekannt. Die Spiele mit ihrer Schwester wurden immer weniger, in dem Mae, da die Hausaufgaben anwuchsen. Im Ballett wurde sie wegen ihrer Figur gehnselt:

"So wirst du nie eine Ballerina!" mute sie von den Lehrerinnen und den Mitschlerinnen sehr oft hren. Doch Kim hatte ja sowieso niemals vorgehabt, eine zu werden. Die Fltenkurse wurden intensiviert und Wettbewerbe darin angestrebt. Die langen, einsamen Winternchte sahen Kim in eine flauschige Decke gehllt in ihrem Zimmer vor dem Plattenspieler auf dem Boden liegen und Pferdebcher lesen. Sie trumte von weiten Ritten in unberhrter Natur auf wilden Pferden, an ihrer Seite ein junger, bezaubernder Mann, den sie liebte und der sie ebenso liebte, von Freiheit und Ungebundenheit. In dieser Zeit der Pubertt hatte sie zwei immer wiederkehrende Trume: In dem einen versuchte sie vergeblich, ihren kleinen Hund, dessen Fu sich in den Schienen verfangen hatte, vor einem herandonnernden Zug zu retten, der Alptraum endete jedoch immer vor dem schrecklichen Ende, in dem anderen Traum sah sie sich als junge Grfin, deren bser Stiefvater sie nicht an einen jungen Arzt verheiraten wollte und sie, um an das Erbe zu kommen, bei einem gestellten Unfall so verletzte, da sie an den Rollstuhl gefesselt war. Trotzdem konnte sie eines Tages jedoch aus dem Schlo mit Hilfe des jungen Arztes fliehen und diesen am Ende auch allen Hindernissen und ihrer Behinderung zum Trotz heiraten. Sie zog mit ihm in ein fremdes Land, um dort glcklich zu leben. Nur einmal hatte sie dagegen einen Traum, der ihr fr immer ins Gedchtnis gegraben blieb:

In einer friedlichen Winterlandschaft, wo der helle Mond silbrig auf den schneebedeckten Bumen glnzte, sah sie sich in einer kleinen, gemtlichen Holzhtte. Ein romantisches Feuer prasselte im offenen Kamin und warf einen warmen Schein auf die Wnde. Sie wartete. Ein seltsam schnes Gefhl der Vorfreude durchflutete ihren Krper. Pltzlich nhrte sich vom Schnee gedmpftes Hufgetrappel, sie strzte aus der Tr, und schaute auf den Reiter. Ein unheimlich schnes, unbeschreibbares Gefhl durchstrmte ihren Krper, als sie auf den Reiter, der auf einem edlen, sich ungeduldig aufbumenden Schimmel sa, zueilte. Der geheimnisvolle Fremde war in ein dunkles Gewand gekleidet, trug helle Hosen und altmodische Stulpenstiefel, ein schwarzer, weiter Umhang umwehte seine hohe Gestalt. Er trug die Zge von Grard Philippe, eine kleine ungezhmte Strhne seines braunen, dichten Haares hing ihm in die Stirn, dunkle Augen blickten, unergrndlich wie tiefe Seen, auf Kim. Er hob sie mit einer leichten und doch kraftvollen Bewegung zu sich in den Sattel, drckte sie fest an sich, seine Lippen berhrten zrtlich die ihren zu einem nicht enden wollenden, fordernden und doch zugleich hingebungsvollen Ku und er galoppierte mit ihr davon. Ihre weien Schleier wehten im Wind mit der weien Mhne des Pferdes und dem weien Schweif um die Wette und der Schnee stob nur so unter den flinken Hufen des edlen Tieres. Dann lste sich das Traumbild in Nichts auf und Kim erwachte. Doch dieser Traum steigerte noch ihre Sehnsucht nach Liebe und Freiheit, da sie beides ja nicht kannte.

"Mum, ich mchte zu Weihnachten so gerne eine Schallplatte haben, wie sie in der Werbung zu sehen war, mit Rock 'n Roll Musik!" Kims unsichere, zgerliche Stimme zeugte von nicht viel Vertrauen in die positive Antwort der Mutter und wirklich schaute diese unglubig und fast entsetzt in das Gesicht ihrer jetzt 14jhrigen Tochter. Kim war zwar nur mittelgro und nicht gerade schlank, wie es die Mode eben verlangte, doch besa sie ein hbsches Gesicht mit viel Ausdruck. Ihre roten Haare fielen in dichten Locken ungebndigt auf den Rcken und verbargen die etwas zu groen Ohren, die grnen Augen schauten sanft und oft etwas verschleiert in die Welt, so, als ob Kim mit ihren Gedanken oft weit, weit weg wre - in ihrer eigenen Traumwelt vielleicht - die etwas groe, gerade Nase erhob sich ber vollen Lippen und dichte Brauen schwangen sich in khnem Bogen auf der hohen Denkerstirn.

"Mum, bitte!"

"Gebettelt wird schon gleich gar nicht, meine Liebe! Du weit, da wir alles fr euch tun, damit ihr eine gute Erziehung und Ausbildung erhaltet, du und deine kleine Schwester, denn ihr sollt alle das Gleiche erhalten, damit sich spter keine einmal beschweren kommt, die andere habe mehr erhalten. Und ich halte es fr absolut unntig, da fr solchen Schund Geld ausgegeben wird. Ich kenne die Sachen, du hrst sie dir einmal an, dann liegt die Platte im Schrank und gert in Vergessenheit, auerdem kostet so eine Platte viel zuviel fr das, was sie wert ist. Wnsche dir lieber ein Buch oder etwas zum Anziehen!" Diese Tirade hatte Kim schon befrchtet, auch da ihre Mutter die moderne Musik mit dem Wort "Schund" abtun werde. Sie hatte aber nicht gestehen wollen, da sie in der Schule nicht mitreden konnte, wenn sie nicht einmal die Musik kannte, ber die jetzt jeder sprach. Rock und Pop, Fremdwrter fr eine 14jhrige! Aber sie lebte nun einmal leider wie hinter Klostermauern. Umgeben von Ordnung, klassischer Musik und wohl ausgewhlten Filmen im Fernsehen. Dabei gefielen ihr sowie so nur romantische Filme mit Happy-End, wobei sie dann ihre Trnen zu verbergen suchte. Trnen, weil die Liebe siegte oder Trnen, weil sie wohl nie eine solche Liebe erfahren wrde.

Weihnachten war wie immer das Fest der Familie, immer dieselben fnf Gesichter unter dem festlich geschmckten Baum. Die gleichen Lieder von der Schallplatte, das gleiche Zeremoniell wie in jedem Jahr. Die Kinder verbrachten den Nachmittag nach dem Festessen in der Wohnung der Gromutter, Vater und Mutter schmckten den Baum und bauten die Geschenke auf. Dann der helle Ton der Glocke: Es ist beschert! Jeder war dem festlichen Anla entsprechend gekleidet. Die Kinder rannten die Treppe hoch, doch vor dem Zimmer stoppten sie und betraten gemessenen Schrittes den Raum.

"Frohe Weihnachten, meine Kinder!"

"Frohe Weihnachten, Mum, frohe Weihnachten, Pa, frohe Weihnachten Granny!" Doch die Augen der Mdchen suchten schon unter dem Baum die Geschenke zu entrtseln. Was verbargen wohl die bunten Papiere und groen Schleifen?" Doch zuerst das obligatorische Familienfoto: alle lcheln bitte!

"Ich hasse diese gestellten Fotos!" zischte Kim durch die Zhne.

"Jedes Jahr dasselbe Foto im Album: Weihnachten Silvester, Ostern und die Geburtstage: alle fein angezogen, alle lcheln, alle zeigen die Geschenke. Wie unendlich langweilig!"

"Psst!" flsterte Maude ihr mit dem Eifer der Zehnjhrigen zu.

"Je schneller wir fr das Foto fertig sind, desto schneller drfen wir die Geschenke ffnen!"

"Schon gut, Kleine, ich wei ja, wie sehr du auf das Spiel gewartet hast." beruhigte sie die groe Schwester, die ja selbst gerne wissen wollte, ob die Mutter nicht doch noch ein Einsehen mit ihr hatte und die Platte auf dem Gabentisch lag. Doch welche Enttuschung: Nur ein paar warme Sachen und zwei Sachbcher verbargen sich unter dem Papier. Maude jedoch war glcklich, sie hatte ihr lang ersehntes Spiel erhalten, dazu ebenso warme Sachen und ein Plschtier.

"Schau mal, Kim. So ein niedlicher kleiner Lwe, richtig zum Kuscheln, findest du nicht auch?"

"Mir wre ein echter Hund lieber!" seufzte Kim und bemhte sich, mit lchelndem Gesicht ihren Eltern fr die Geschenke zu danken.

"Schnell, schnell, lschen wir die Kerzen aus, ihr wit ja, wie gefhrlich das ist!" rief die Mutter den Kindern zu.

"Aber Mum, wir sind doch keine kleinen Babys mehr, wir passen schon auf!"

"Nein, ich will, da ihr die Kerzen lscht, ich mu nach unten, nach dem Rechten sehen und htte keine Sekunde Ruhe, solange hier die Kerzen brennen!"

"OK, OK, schon gemacht!" seufzte Kim und begann, zusammen mit Maude, die Kerzen auszublasen. Spter gab es dann ein kurzes Abendessen auf dem festlich gedeckten Tisch im Ezimmer der Gromutter, dann bereitete sich die Familie auf den Gang zur Mitternachtsmesse vor. Zwar waren die O'Kearys nicht besonders eifrige Christen, doch die Weihnachtsmesse besuchten sie immer, sozusagen "der Kinder wegen" damit diese "spter kirchlich heiraten knnen".

Zu ihrem nchsten Geburtstag erhielt Kim die Erlaubnis, eine Tanzschule besuchen zu drfen. Zwar hatten alle ihre Klassenkameradinnen dies schon mindestens ein Jahr frher getan, sie mute jedoch froh sein, berhaupt die Erlaubnis ihrer Mutter zu erhalten. Natrlich war die Tanzschule der Mutter von frher her bekannt, natrlich wurde Kim zu jeder Tanzstunde von der Mutter gebracht, diese wartete vor der Tr im Auto auf ihre Tochter und nahm sie wieder mit nach Hause.

"Ja hast du denn keinen Partner?" der freundliche Tanzlehrer kmmerte sich bevorzugt um Kim, hatte ihre Mutter ihm doch zu verstehen gegeben, da sie als alte Kundin dies von ihm erwarte. Aber auch sonst tat ihm die Kleine leid. Hier waren die meisten Mdchen 13 oder 14 Jahre alt, eine groe Zahl hatte ihren Freund oder Klassenkameraden als Partner gleich mitgebracht, nur Kim war lter und alleine. Zwar gab es da die "Alten", Tanzschler lteren Semesters, die bezahlt wurden, als Partner zu fungieren, doch meistens nur fr den Abschluball und nicht fr die Tanzstunden an sich.

"Alle sind schon vergeben!" seufzte Kim, der, so euphorisch sie auch gewesen war, als ihr die Mutter die Erlaubnis gab, jetzt langsam klar wurde, da sie auch hier wieder ein Auenseiter sein werde.

"Dann mu ich dir wohl eine Privatstunde geben!" lchelte der Tanzlehrer und begann, Kim die Schritte des Tangos beizubringen.

"So schwer ist das doch nicht, oder?"

"Nein, Mister Bell, es ist gar nicht schwer, vor allem der Walzer ist mein Lieblingstanz, so leicht und schwingend und so romantisch!"

"Nchste Woche ist der Abschluball, hast du da schon einen Partner, mein Kind?" Mister Bell kannte die Antwort schon im voraus, deshalb hatte er auch schon einen jungen Mann benachrichtigt, als Partner zu fungieren.

"Ich habe keinen Partner und kenne auch niemanden, der mir als solcher dienen knnte! Ich werde also wahrscheinlich am Ball nicht teilnehmen!" murmelte Kim fast unhrbar, doch mit deutlicher Traurigkeit in der Stimme.

"Keine Angst, ich habe einen Partner fr dich bestellt, er wird eine weie Rose im Knopfloch tragen und dich Punkt neun Uhr am Eingang des Saales erwarten."

"Danke, Mister Bell!"

Am Abend des Balles war Kim pltzlich nervs. Wie sah der geheimnisvolle Partner nur aus? So wie der Prinz ihrer Trume, der sie wie Cinderella zum Tanz fhren wrde? Wrde sie auch wie diese um Mitternacht nach Hause gehen mssen oder drfte sie den Ball zu Ende tanzen? Denn tanzen wollte Kim auf alle Flle bis zum Umfallen, sie wute, da sie nach diesem Abend wohl keine Gelegenheit mehr dazu haben wrde. So stand sie also pnktlich vor dem Saal. Fr diesen Anla hatte sie extra ein Abendkleid von der Hausschneiderin genht bekommen, zwar nicht ganz so, wie sie es sich vorgestellt hatte, doch immerhin mit einem gewissen Schick, aber sehr dezent. Natrlich hatte die Mutter wieder ber die Mehrausgabe gesthnt, dann aber doch lieber einen billigen Stoff der Schneiderin gegeben, als ein teures Abendkleid von der Stange zu kaufen, die ihr alle zu gewagt schienen fr ihre Tochter. So hatte das rote Kleid - schrecklich zu Kims roten Haaren - ein einfaches, rotes Oberteil mit einer breiten Rsche am kleinen Ausschnitt und einen nicht zu weiten, langen Rock aus roter Gaze ber rotem Unterrock. Kein groer Schmuck, nur eine kleine Kette zierte ihren Hals und ein schmaler Goldreif ihren Arm. Doch fhlte sich Kim leicht und zauberhaft wie Cinderella. Wenn er nur pnktlich ist, der charmante Prinz! Ihre Mutter hatte sie natrlich gebracht, war aber zu Kims groem Entsetzen ebenfalls mit einer Einladung versehen, die sie sich ber ihren alten Bekannten, den Tanzlehrer verschafft hatte. Als Gardedame wrde sie also den ganzen Abend ber ihrem Tchterchen wachen. Kim war die ganze Freude vergllt. Und dann kam auch noch ein blonder, pickeliger, unrasierter Typ auf sie zu, mit einer Stahlbrille auf der groen Nase und einer unbeschreiblichen Figur - und trug eine weie Rose im Knopfloch!

"Bist du die Dicke, die keinen Partner gefunden hat?" fragte er mit nselnder, unsympathischer Stimme und sehr von oben herab.

"Ja." flsterte Kim kaum hrbar, denn die Stimme wollte ihr versagen. Aus der Traum vom stattlichen, schnen Prinzen! Und sein Gehabe - schrecklich! Den ganzen Abend lie er Kim fhlen, da er nur des Geldes wegen diese Qual auf sich nahm. Nach den ersten Pflichttnzen fhrte er seine Partnerin an den Tisch zurck und verdrckte sich mit einigen Freunden und Freundinnen ans Bfett, von dem er gegen Mitternacht und mit etwas glsernen Augen zurckkehrte. Kim suchte mit den Augen ihre Mutter, die auf der Empore Platz genommen hatte und ein stetiges Auge auf ihre Tochter hatte. Brav trank Kim ihren Orangensaft, obwohl es Wein und Bowle fr alle gab, und langweilte sich zu Tode.

"Wwillst du nnoch mmal ttanzen?" Ihr Partner war zurckgekehrt und sprach mit schleppender Stimme und einem Atem, der den hohen Alkoholgenu spren lie.

"Wwenn nicht ddann kkann ich jja ggehen!" Kim schaute angeekelt auf ihren Partner, sie hatte noch nie einen Betrunkenen aus nchster Nhe gesehen, auch wenn ihr die bekannten Gestalten alter Zecher in der Nhe der Pubs nichts Neues waren.

"Gute Nacht!" mehr schien Kim unntig, "auf Wiedersehen" wollte sie auf keinen Fall wnschen, denn sie hoffte sehr, diesem Menschen niemals mehr begegnen zu mssen. Zwar war der Ball noch nicht zu Ende, doch gab es fr Kim keinen Grund mehr zu bleiben. Niemand wrde sie zum Tanzen auffordern, die Showeinlagen waren vorber - nur die Mutter wachte erbarmungslos von oben ber ihre Tochter. Traurigen Herzens stand Kim auf, ihr Kleid schien pltzlich Zentner zu wiegen, ihre Beine schienen aus Blei und ihr Kopf schmerzte vom Rauch der vielen Zigaretten, der zum Schneiden dicht in der Luft hing.

"Na, hat es dir gefallen?" Vielleicht meinte es die Mutter ja wirklich ernst mit ihrer Frage, doch Kim fand darin nur grellen Hohn.

"Es war sehr festlich!" gab sie zu, dann zog sie sich in ihr Inneres zurck und sprach weder whrend der Heimfahrt noch zuhause ein einziges weiteres Wort. Mochte die Mutter es auf die bermdung ihrer Tochter zurckfhren, um so besser.

Quietschende Reifen, zerberstendes Blech, und das kahle, weie Zimmer im Krankenhaus. Die junge Frau - Kim - im Rollstuhl, von der Stiefmutter geschoben. Hmische Worte aus dem Mund der Stiefmutter: "Jetzt endlich bist du ganz auf mich angewiesen und wirst mich nie mehr verlassen knnen!" Und dann der junge Arzt, der sie aus den Klauen der Stiefmutter unter Gefahr seines Lebens befreit, mit sich nimmt und heiratet. Zwar nicht mehr vollwertig, dafr aber geliebt und frei.

In dieser Nacht hatte Kim wieder ihren Alptraum, doch schien er ihr jetzt, nach dem Aufwachen, eine Bedeutung zu haben, ihr eine Nachricht bermitteln zu wollen. Sollte ihre Mutter wahrhaftig versuchen, sie zu lhmen, zwar nicht krperlich, aber sehr wohl auf geistiger Ebene? Wollte ihre Mutter auch ihr, Kims Leben, vollstndig bestimmen, sie keine eigenen Schritte gehen lassen? War der Rollstuhl ein Zeichen fr Abhngigkeit und Unterwerfung? Aber wo war der Befreier? Beim jetzigen Stand der Dinge wrde es ihn noch lange Zeit nicht – ja vielleicht sogar nie - geben!

Von diesem Tag an begann sie zu hungern. Und sie hungerte so lange, bis sie bei 1,67 Gre nur noch 48 kg wog. Zwar fiel ihrer Mutter die Sache auf, doch sagte sie sich, da ihre Tochter sich ihre Worte nun doch endlich einmal zu Herzen genommen habe. Und so vertraute sie auf die alte Taktik auch weiterhin.

"Du bist noch immer viel zu fett, schau dir nur mal deinen dicken Hintern an!"

"Aber Mum, ich wiege nur noch 48 Kilo, das ist doch nicht zuviel!" protestierte Kim, als ihre Mutter sie einmal nackt vor dem Spiegel in ihrem Zimmer berraschte. Das war sowieso gang und gbe in der Familie O'Keary. Die Mutter kam auf leisen Sohlen unhrbar in das Zimmer der Mdchen, um zu sehen, was diese denn so machten, Telefonanrufe wurden sofort abgefangen oder mitgehrt, da das einzige Telefon am Treppenabsatz angebracht war. Briefe wurden geffnet und dann mit den Worten bergeben, "ich habe gar nicht gesehen, da dein Name drauf stand" oder "ich habe gedacht, das sei eh nur Reklame". Fr die Mdchen gab es keine Privatsphre, alles wurde von der Mutter berwacht. Wenn andere Mdchen mit fast sechzehn Jahren schon einen festen Freund hatten, ja diesen sogar auf ihr Zimmer nehmen durften, so mute sich Kim noch immer das Zimmer mit ihrer zwlf Jahre alten Schwester teilen. Das Licht wurde abends von der Mutter gelscht, genau so wie die Mutter morgens die Lden aufstie, um die Kinder zu wecken. So blieben fr Kim auch nur die alten Recken der Kinoleinwand, manch einer schon seit Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilend, doch in seinen Filmen unsterblich geblieben, die sie lieben oder als ihre Helden verehren konnte. Romantisch bis in die Fingerspitzen, bewunderte sie Errol Flynn, Gene Kelly oder Grard Philippe in deren schnsten Rollen, als edle Helden. In der Schule ging alles bestens, dank den unerschpflichen Forderungen der Mutter und der Tagesablauf war geordnet und eintnig wie bisher.

"Na, schau einer an! Der Ballettunterricht war doch zu etwas nutze! Aber abnehmen mut du trotzdem noch!"

"Mum, der Ballettunterricht hngt mir zum Halse raus, ich will ja sowieso keine Ballerina werden, warum mu ich denn jetzt noch Spitzentanz lernen?"

"Ich habe auch Spitzentanz gelernt, das gibt einen geraden Rcken und eine ausgezeichnete Haltung! Auerdem kannst du doch die Ballettlehrerin nicht vor den Kopf stoen, stell dir vor, ICH habe schon bei ihr Ballett gelernt und dann Tanzstunden genommen, sie wrde mir das nie verzeihen!"

"Mum, ich bin ber fnfzehn, ich mchte auch mal etwas anderes machen, nach zwlf Jahren Ballett!" Kims Mutter blieb unerschttert.

"Mal sehen, vielleicht kannst du ja zustzlich noch Schwimmunterricht nehmen?"

"Schwimmunterricht?? Ich kann ja seit meinem sechsten Lebensjahr schwimmen!"

"Ich meine etwas anderes damit - na, mal sehen!" beendete die Mutter die Unterredung und war schon wieder verschwunden. Kim wunderte sich ber nichts mehr. Wie dnn sollte sie denn noch werden, damit sie vor dem kritischen Blick der Mutter Gefallen fand? Und das, obwohl die Mutter, einst eine schlanke Schnheit, nach der Geburt Maudes zunehmend dicker geworden war und jetzt das Aussehen einer Tonne hatte.

Am Nachmittag kam die Mutter freudestrahlend wieder zu Kim ins Zimmer, als diese gerade vor ihrem Radio liegend leise Popmusik aus dem ther hrte und trumend vor sich hin sang. Als sie die Schritte der Mutter hrte, richtete sie sich blitzartig auf und drehte die Musik ab, doch es war schon zu spt:

"Was hrst du denn da? Und warum sitzt du nicht ordentlich auf dem Stuhl? Hast du deine Hausaufgaben schon fertig?" Wie ein Schnellfeuer, so prasselten die Fragen auf Kim herab. Diese verzog ein wenig den Mund zu einer Schmollmiene:

"Ich bin fertig mit den Aufgaben, habe gerade Radio gehrt und es ist gemtlich hier auf dem Boden."

"Gib nicht so vorlaute Antworten, mein Kind, sonst erlebst du was! - Ich wollte dir nur mitteilen, da du ja sowieso zuviel Zeit hast, wo du nur faul herumliegst, da du ab nchster Woche jeweils Montagabends am Stilschwimmen und -springen teilnehmen wirst. Der Kurs ist schon bezahlt, ich will also keine Widerworte hren!" Damit rauschte sie hoheitsvoll aus dem Zimmer.

"Oh Gott! Langsam habe ich keine Sekunde mehr, die nicht verplant und ausgefllt ist!" seufzte Kim und streckte sich auf ihrem Bett aus. Dessen Tagesdecke hatte weiche, lange, beige Fasern, fast wie das Fell eines Ponys im Winter. Und whrend sie die Decke streichelte, stellte sie sich vor, da es ihr eigenes Pferd wre, zu dem sie gehen knnte mit all ihren Sorgen, das sie verstehen wrde, auch wenn es ihr keine Lsung auf ihre Fragen bieten knne, das ihr Zuneigung entgegenbrchte und Wrme. Langsam schlief sie ein und in ihren Trumen wurden ihre Wnsche wahr.

"Also das ist ja die Hhe!" Schlaftrunken fuhr Kim auf und starrte ihre Mutter an, die mit allen Anzeichen von Wut auf sie hinab sah.

"Was treibst du denn hier? Du kannst ja jetzt wohl nicht mde sein? Hast du vergessen, da du Fltenunterricht hast?"

"Nein, Mum, Verzeihung, Mum!" Natrlich hatte sie ber ihren Wnschen und Trumen alles vergessen, doch war es nicht angezeigt, dies auch noch zuzugeben. So zog sich Kim schnell an und nahm ihre schon von der Mutter vorbereitete Tasche mit den Flten und den Notenheften unter den Arm. In krzester Zeit war sie startklar und die Mutter brachte sie zu ihrer Lehrerin.

"Guten Tag, Madam, hier ist Kim, ich hoffe, sie macht weiterhin so groe Fortschritte, wie bisher!" Die Fltenlehrerin schaute etwas abwesend drein, denn Kims Mutter war ja whrend jeder Stunde anwesend, konnte also selbst Lob und Tadel an ihrer Tochter hren. Fr Kim stellten die Worte ihrer Mutter eine andere Bedeutung dar, sie hoffte nmlich, da die Mutter fortan nicht mehr bei den Proben zugegen sein werde. Doch die Fltenlehrerin hatte den beiden etwas ganz anderes mitzuteilen:

"Mrs. O'Keary, liebe Kim, ich mu ihnen leider mitteilen, da ich beschlossen habe, mich ganz meiner Karriere als Konzert - Fltistin zu widmen. Deshalb werde ich nicht mehr in der Lage sein, nebenher auch noch Unterricht zu erteilen. Ich werde Kim fr das nchste Jahr Fingerbungen erteilen, dann kann sie eventuell bei meiner Kollegin weiter arbeiten, die bis dahin meine Stelle einnehmen wird - natrlich nur, wenn sie darin keine Unannehmlichkeiten sehen." Zuerst wollte Kims Mutter auffahren, doch nachdem sie die Sache so geregelt wute, behielt sie ihre freundliche Miene bei.

"Natrlich sind Kim und ich tieftraurig, da wir ihre Hilfe und ihr Wissen nicht mehr in Anspruch nehmen knnen, jedoch sehe ich, da sie alles im voraus geregelt haben und bin ihnen sehr dankbar dafr. Kim und ich haben volles Verstndnis fr ihren Wunsch und hoffen, da sie bald ihre erfolgreiche Karriere beginnen mchten." Die Fltistin bedankte sich fr die guten Wnsche und reichte Arden einen Sto mit Notenblttern.

"Ich gebe ihnen hier die bungen fr Kim" und zu Kim gewandt:

"Ich hoffe du bleibst auch weiterhin eine eifrige Schlerin und bst zuhause nun mehr als bisher, damit du im nchsten Jahr die Aufnahmeprfung bestehst! Viel Glck!"

"Danke!" stotterte Kim vllig berrascht ber die unverhoffte Wendung der Dinge.

"Wir danken ihnen - komm schon Kim, wenn du heute schon keine Stunde mehr hast, kannst du gleich zuhause anfangen mit ben!" Damit zog die Mutter Kim aus dem Raum. Im Auto meinte Kim zgernd:

"Ich wrde unter diesen Bedingungen gerne mit dem Fltenspielen aufhren, Mum. Ich meine - ein Jahr lang nur Fingerbungen, nachdem ich schon Haydn gespielt habe, das kommt mir etwas lcherlich vor und dann die neue Lehrerin und eine Aufnahmeprfung - ich stehe bald vor dem Schulabschlu und mu mich auf andere Dinge konzentrieren!" Diesmal schien die Anspielung auf die bevorstehenden Prfungen zu wirken, die Mutter versprach, sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen.

Zuhause angekommen, versteckte Kim ihre Flte und die Notenhefte zuunterst in ihrem groen Schrank. Nur nie wieder hervorholen mssen!

"Schwimm langsam, hol weit aus, streck die Finger nach vorn und halte die Fe gerade!"

"Du holst wieder falsch Luft!! - Dreh dich langsam und mach die Wende unter Wasser! - NEIN!!! Mit offenen Augen!" so drhnte die Stimme des Schwimmlehrers durch die fast leere Halle.

"Aber die Augen brennen mir und nachher sind sie immer geschwollen!" beschwerte sich Kim mit leiser Stimme, so leise, da ihre Mutter, die am anderen Ende der Bahn sa, es nicht mehr vernehmen konnte.

"Kann ich nicht eine Brille aufsetzen?"

"Kommt gar nicht in Frage! Hier wird ohne Hilfsmittel geschwommen. Spter kannst du auch keine benutzen, wenn du im Wettbewerb schwimmst!"

"Zum Teufel mit den ganzen Wettbewerben!" dachte Kim, doch laut meinte sie nur:

"Im Wettbewerb werde ich keine Brille tragen, doch im Training..."

"Ich habe doch ganz klar gesagt, da bei mir keine Brillen getragen werden! Wenn deine Mutter dir schon den Einzelunterricht bezahlt, solltest du dankbar sein und nicht an allem herummaulen!" So, jetzt hatte sie es! Die Gte und der Gromut der Mutter! Die noch immer bei jeder Stunde dabeisa! Die lieber Einzelstunden bezahlte, als da ihre Tochter mit anderen Jugendlichen zusammen war! Die Mutter und immer wieder die Mutter!

Doch Kim bi diesmal die Zhne zusammen. Es war ihr gelungen, die Mutter davon zu berzeugen, da sie die Fltenstunden nicht weiter fortfhren wolle und dieses eine Mal hatte die Mutter zugestimmt. Wofr natrlich von Kim erwartet wurde, da sie sich dankbar erwies und freudig am Schwimmunterricht teilnahm. Wochenlang, monatelang litt sie, dann sprang sie einmal whrend des Trainings schlecht vom Fnfmeterbrett, der Salto mit Schraube ging daneben und sie schlug mit dem Rcken so schlecht auf, da sie dachte, sie habe sich alle Knochen gebrochen. Die Mutter fand dies denn doch zu gefhrlich und brach den Unterricht ab. Nach einigen Tagen im Bett fragte sich Kim lediglich, was die Mutter wohl als nchstes fr sie organisieren wrde, doch vorerst blieb es beim Ballett.

"Liebe Kinder, wir werden dieses Jahr eine Klassenfahrt machen! Ich kann euch schon einige interessante Ziele vorschlagen, wenn ihr jedoch andere Ideen habt und diese zu verwirklichen sind, knnen wir auch darber reden!" Einige der Jungen und Mdchen meldeten sich, Worte wie >London< >Rom< >Venedig< >Paris< >Madrid< fielen, Orte, an denen die jeweiligen Jugendlichen schon allein oder mit den Eltern gewesen waren. Nur Kim konnte da nicht mitreden, ihre Ferien bestanden seit ihrer frhesten Jugend aus einem Erholungsurlaub von zwei Wochen in Connemara, zwei Wochen mit Wandern, Segeln, Fischen oder Nichtstun. Und auch dies wurde alles von der Mutter organisiert.

Nach einem kurzen Disput kam die Lehrerin zu dem Ergebnis, da es vorerst kein Ergebnis gbe und berief eine Elternkonferenz fr den bernchsten Abend ein.

"Mum, wir gehen auf Klassenfahrt, nur ber das Ziel mu noch entschieden werden!" Freudestrahlend rannte Kim ins Wohnzimmer, wo die Mutter gerade ber ihren monatlichen Abrechnungen sa.

"Hast du auch daran gedacht, wieviel das kostet?" Kim fiel aus allen Wolken ob dieser Antwort. Freute sich denn die Mutter gar nicht, da ihre Tochter endlich einmal aus Irland heraus kam und sich die Welt ansehen durfte?

"Aber Mum, alle gehen auf Klassenfahrt, sogar die Donovans! Die Schule gibt einen Zuschu, damit Pete nicht zuhause bleiben mu!"

"Ich gehe ganz bestimmt nicht betteln! Und auerdem... Das ist nicht nur eine Frage des Geldes! Wohin wollt ihr denn eigentlich fahren?"

"Das ist noch nicht entschieden! bermorgen Abend ist Elternabend, da will die Lehrerin das Ganze errtern und alles festlegen! - Du gehst doch sicher auch? Nicht wahr, Mum?" Kims Augen flehten um Verstndnis. Nie war sie aus dem Land herausgekommen - gewi, Irland hat viele schne Pltze, aber wenn die anderen Kinder nach den Ferien von ihren Erlebnissen erzhlten, dann schmte sich Kim schon, da sie auf die Frage der Lehrerin und im Aufsatz ber die Ferien seit Jahr und Tag >Connemara< angeben mute. Vor allem, wenn die anderen so exotische Ziele angeben, wie Florida, Spanien, Frankreich, Sdafrika, ja sogar Australien oder eben "nur" Grobritannien.

"Wir werden sehen!" Damit war das Thema fr Kims Mutter abgehakt. Am Abend des Elternabends konnte Kim nicht einschlafen, mit klopfendem Herzen wartete sie auf die Heimkehr der Mutter, damit diese ihr das Reiseziel verraten werde und - wie beilufig - anmerken wrde: du fhrst natrlich mit! Es wurde spt und spter, Kim konnte die Augen kaum noch offenhalten, dann war sie pltzlich vor Erschpfung eingeschlafen. Am nchsten Morgen wurde sie durch die Mutter geweckt, die wie jeden Morgen die Lden vor den Fenstern ffnete.

"Guten Morgen, Kim, gut geschlafen?" Der gleiche Satz, wie jeden Morgen, keine Silbe von den Ergebnissen der letzten Nacht.

"Morgen, Mum!" Kim rkelte sich unter den Decken, mehr um ihre Nervositt zu verbergen, denn aus Mdigkeit. Dann hielt sie es nicht mehr aus:

"Na, wie war denn die Sitzung in der Schule? Wo fahren wir denn hin?" Doch als sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter sah, verschlug es ihr die Sprache.

"Die anderen fahren nach Malta." Kam es trocken von der Mutter. "Du bleibst jedoch zuhause!"

"Nein!!!!" Ein Schrei der Verzweiflung lste sich von den Lippen Kims, doch lie sich die Mutter nicht aus der Ruhe bringen.

"Ich habe natrlich so getan, als ob ich dich mit liee, doch werde ich es im letzten Augenblick dann zu vereiteln wissen!"

"Aber Mum, warum denn?" Kim bemhte sich, die Trnen der Enttuschung, die ihr in den Augen brannten, zurckzuhalten. Sie wute, da die Mutter nichts mehr hate, als Trnen und Szenen.

"Ich bin dir eigentlich keinerlei Rechenschaft schuldig, will hier jedoch einmal eine Ausnahme machen: Erstens ist die Reise sehr teuer, doch das ist nicht der Hauptgrund: du bist 15 Jahre alt, ziemlich hbsch. Ich wei, was da so alles los ist, bei Klassenfahrten und genau das will ich vermeiden!" Zwar war Kim immer noch sehr unschuldig, was gewisse Dinge betraf, doch konnte sie sich schon vorstellen, was die Mutter meinte. Hatte sie doch im Schulhof schon so manches Gesprch mitgekommen, ja hatten sich einige Klassenkameradinnen geradezu mit ihren Abenteuern gebrstet (vielleicht auch alles nur erfunden, um damit aufschneiden zu knnen), jedenfalls war ihr klar, wovor die Mutter Angst hatte.

"Mum, ich kann schon auf mich aufpassen! Auerdem gibt es in meiner Klasse keinen Jungen, der je DAS von mir gewollt htte und auch sonst niemanden!"

"Mein Kind, du bist sehr unreif, was diese Dinge angeht! Die Welt ist schlecht und in der Jugendherberge auf Malta gibt es nicht nur deine Klasse oder deine Schule, sondern auch Jugendliche aus allen Ecken und Enden der Welt und es gibt die Malteser! Auerdem weit du nie, wann du deine Tage bekommst und das ist bei dir ja ziemlich unangenehm! Nein, es ist beschlossen, du fhrst nicht!"

"Und ich fahre doch!!" schrie Kim ihrer Mutter wtend ins Gesicht, doch da klatschte schon die Hand der Mutter mit krftigem Schlage rechts und links auf ihre Wangen und hinterlie feurige, rote Striemen. Dann war die Mutter auch schon aus dem Zimmer. Weinend und ihre schmerzenden Wangen mit den Hnden bedeckend, verkroch sich Kim wieder unter ihre Decken. Ein Glck, da heute keine Schule war, wie htte sie sonst die brennenden Male erklren sollen?

Und wieder erstarb in ihr ein Stckchen ihrer Seele.

 
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